8. Mai 2021

Die Kollwitz. Im Jahre 2021

Vom Krieg in Berlin heimatlos gemacht, findet Käthe Kollwitz einen letzten Lebensraum und ihren Sterberaum. 1945. Im Rüdenhof. In Moritzburg. Bei Dresden. Dort ist nun eine Gedächtnis-Stätte für Käthe Kollwitz. Ein Kleinod der Erinnerungskultur und ein Begehungsort für kulturelle Programme. Man möchte denken, daß Sachsen und seine Kulturinstanzen stolz auf das kleine Museum sind, das große Kunst bezeugt. Vielleicht ist es sogar so. Aber „Bilanzen“ löschen diesen Empfindungsstatus aus. Es wird rigoros gekürzt, der Lebensnerv von Kunst und Kultur verstümmelt. Die fatale Ausrede ist: „Käthe Kollwitz gehört regional nach Berlin.“

WELTKUNST hat keine regional begrenzte Wohnadresse.

Empörung! Dieses geizende Land gibt 2020 für die Rüstung 45,2 Milliarden Euro aus. Die Autobahn, mit Lügen gepflastert, wird in einem monströsen Ausmaß bebaut, um „Mensch und Kriegsgerät“ an die „OSTFRONT“ zu transportieren. Keine Scham, diesen Begriff, der faschistisch besetzt ist, in der öffentlichen propagandistischen Berichterstattung zu verwenden. Verteidigung gegen wen? „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“ Auf seinem Sterbebett wiederholt Bismarck: “Nie gegen Rußland!“

Der Feind wird „hergestellt“. Für einen Dritten Weltkrieg, das Endzeit-Inferno. Europa, „die verbrannte Erde“. Wessen Sieg kann auf diesem Schlachtfeld dann noch ausgemacht werden? Stoltenberg trommelt zum Aufbruch: Rußland verkörpere aggressive Expansion. Schwindlichsein setzt bei mir beim Schwindel ein, wenn das Wissen über Tatsachen in meinem Kopf so entstellt wird wie mit diesem Freispruch der NATO und ihrer Betreiber, die ihre Ostausweitung in Richtung Rußlands Grenze von mir als brandnötige Kampfhaltung für unsere bedrohte Sicherheit verstanden wissen wollen.

Arbeiten der Kollwitz erheben bildnerisch die Stimme gegen den Krieg. Diese Künstlerin ist eine leidenschaftliche Pazifistin. „Käthe Kollwitz wurde von den Nazis verächtlich gemacht und ihr Werk geächtet.
In der DDR konnten wir uns auf ihre Gesinnung und auf die hohe Qualität ihres Schaffens berufen.

Nur einer fleddert kenntnislos. Der Große. Der Unwidersprochene. Peter Hacks.
Unter dem Titel „Verkannte Elfenreigen/Nullbedürfnis nach Bestsellern“
(In: Peter Hacks „Schöne Wirtschaft/Ästhetisch-ökonomische Fragmente“, Aufbau- Verlag, 1988; S. 67) gibt Hacks preis, daß er zu bildender Kunst keinen Zugang hat, bzw. frühestens dann, wenn sie die Alterung einer Antiquitäte erreicht hat. Allemal recht ist ihm, die Kunst des anschaulichen Denkens für seine arrogante Blödelei des Verächtlichmachens zu benutzen. Bestehende Wertungen werden vermeintlich besser wissend ignoriert. Bei dunklen Gedanken, in beeindruckend rhetorischer Wortkunst vorgetragen, ist das Nichtzuverstehende die besondere Art seiner Überheblichkeit. Siehe dort.
Peter Hacks erlaubt sich über das Kollwitz-Werk zu urteilen, ohne von dessen Großartigkeit zu wissen, bzw. sie zu erkennen.
Wenn er schreibt: „Von den Künstlertragödien die komischste ist der Fall des verkannten Elfenreigens: der Fall der verfrühten und daher unverlangten Unterhaltungskunst.“ Dafür wird auch van Gogh benannt. Und dann weiter: „Ganz ähnlich die Kollwitz mit ihren hungernden Proletarierfrauen, die immer aussehen wie eine demonstrierende Kunstgewerbeschule, oder auch Marc und Barlach (welch unpassende Reihung H. H.) ... Sie revolutionierten den Kitsch und mußten dafür büßen; sie litten für die Mode nach dem Grabe.“ Und so ähnlich weiter. Der in den inhaltlichen Zusammenhängen des Buches so häufig verwendete Begriff Mode bleibt fade und erfährt auch zwischen kommerziellen Weisheiten keine Definition im Rahmen der Belange.

Der Schriftsteller Peter Hacks, ein großer Denker, ein genialer Stilist, den Weisheiten nicht fremd, und er ist ein Mann mit bemerkenswerter politischer Haltung. Es möge mich bitte niemand auf all das hinweisen, wenn diese meine Kritik ihn empört. Ich habe mich mit Mühen und Genuß der Kenntnis unterzogen. Ich zitiere Ella Wengerowa, die ein Großteil der Werke von Peter Hacks ins Russische übertragen hat: „Die Deutschen hatten keinen Aristophanes, jetzt haben sie Hacks. Hacks dachte und dichtete unter der starken Strahlung seiner anspruchsvollen Sprache.“
Ich setze hier nicht eine Beschädigung des Hacks frei, sondern verhandle seine Selbstbeschädigung. Es bleibt sicherlich unbeantwortet, warum er diese Entgleisungen, die aus seinem Niveau herausfallen, an die Öffentlichkeit brachte.

Das Buch „Schöne Wirtschaft“, das im Aufbau-Verlag erschien, wurde dort devot lektoriert. Der Aufschrei, den ich erwartete, kam von keiner Seite. Eine Akademie der Künste, zumindest eine in der DDR, ist eine ethische Security, die, ist eine Persönlichkeit, ein Werk in den hochschätzenden Wertekanon aufgenommen, zu schützen hat. Dreiunddreißig Jahre habe ich meinen Unmut darüber, wie Hacks Respektlosigkeiten, die er Personen zudenkt, zelebriert und genießt, bewahrt.
Für die Unantastbarkeit der Kollwitz einzutreten, ist für mich Verpflichtung.

Wer das Werk dieser Künstlerin auf die mit schnellem Griffel geformte Graphik reduziert, die als Protest und Agitation gegen den Krieg und als sich erbarmende Solidarität mit den Armen ihre Haltung anschaulich macht, der kennt das Kollwitzwerk nicht, und hat zu schweigen. Jeder weiß es, Kollwitz: „Ich will wirken in meiner Zeit.“ Und in unserer?
Und jene, die für ein wirtschaftliches Problem fatale Ausreden suchen, entschuldigt nicht ihre Hilflosigkeit. Was kann dagegen vorgebracht werden, daß die historische Kostbarkeit Rüdenhof eine solche wurde, weil diese Räume die der letzten Tage der sterbenden Kollwitz waren. Bis das Leben sie verließ.
Was ist Kulturgut, ein Kulturgut? Etwas zu Schützendes. Dort haften die Argumente an. Und Käthe Kollwitz ist das stärkste Argument für sich selbst.
Eine Erwähnung lasse ich mit Nachdruck nicht aus: Es solle keiner, dem eine Abwertung dieser Künstlerin abverlangt wird, glauben, ein Zitat wirksam zu machen, weil es an einen großen Namen gebunden ist. Wie hinreichend bewiesen, ist das ein Irrtum.

Jetzt und hier hätte ich den Wunsch, einem Werk der Kollwitz eine besondere Hervorhebung zu geben. Aber: Das Copyright und der nötige Kunstdruck sind nicht auf meiner Seite.
Bitte schlagen Sie nach bei Käthe Kollwitz und finden Sie die Radierung „Schlachtfeld“, das 6. Blatt des Zyklus „Bauernkrieg“ von 1907.
Die ästhetische Form wird in größter Meisterschaft mit auf das Blank des Metalls eingegrabenen fünf sehr differenzierten druckgraphischen Techniken für den Tiefdruck geschaffen. Eine Tiefe aus grün bebendem Schwarz.
Und dann eine Tiefe aus dem a priori des mütterlich weiblichen Fühlens und Erkennens: Das Motiv.
In der Mitte des Drucks läßt das unverletzte Metall den hellen Fleck des Scheinens frei. Eine Mutter sucht ihren „gefallenen“ Sohn. Eine Laterne in ihrer Hand. Das Kunst-Dunkel der Farbe schluckt die Gebeine. Blutiger Morast. Leichengeruch. Sie tastet. Die Hand, gemergelt mit anschwellendem Geäder tastet. Und dann die Gruben des erkalteten Gesichts des Gewesenen, des Verwesenden. Die ertastete Gewißheit treibt den Schmerz mit dem heißen Blut in die totale grausame Empfindung. Die Seele besetzt sie. Dort ist der leibliche Ort der Schmerzgeburt. Die Seele bittet die Mutter um tausend wundkehlige Schreie.
Das Werk ist eine schöpferische Vollkommenheit.

Wenn Sie meinem Text mit einem Schauer gefolgt sind, beim erhofften virtuellen Betrachten erworben, dann will ich Ihnen noch eine Warnung zumuten.
Schlachtfelder dieser Art wird es bei der aktuell heraufbeschworenen Kriegsdrohung nicht mehr geben.
Eine Mutter sucht ihren toten Sohn.
Tot – die Mutter neben dem Sohn, den Söhnen, den Töchtern. Und. Alle neben allen.

Hört auf zu beten!

Wir sind es!

„Die einzige Entschuldigung Gottes ist, daß er nicht existiert.“ (Stendhal)


31. Mai 2018

Stationen unter dem „blutenden Mond“

Ich bin Ostdeutsche. Mein Name ist Heidrun Hegewald.

Dresden, am 13. Februar 1945:
Das schützende Gehäuse, die Wände des Dialogs mit der Angst, die Heimat, die Heimat des Kinderspiels, die Wärme – sie waren verbrannt.
In den Fensterhöhlen tobte der Feuerfraß, und die Lohe nährte den Feuersturm.
Ein verlorenes Paradies.

Ich bin Jahrgang 1936. Der Zweite Weltkrieg, die faschistischen Verbrechen politisierten mich. Das Erbe, eine tiefe beständige Friedenssehnsucht, habe ich angenommen.
Warnen, Beschwören und Bewahren sind eine Mission, die sich mit meiner Arbeit bildnerisch und im Wort reproduzieren läßt.
In „Fachkreisen“ wurde meine Kunst als „kopflastig“ verachtet.
Aber das Publikum schenkte mir den Dialog.

Heiner Müller sagt: „In der Zeit des Verrats sind die Landschaften schön.“
Zum Bild gestaltet, sind diese keine politische Kunst, aber dann ein Politikum!

Die politische Kunst ist nicht das Außergewöhnliche. Das Außergewöhnliche ist die Wirklichkeit, für die eine Sprache gefunden werden muß. Um das Maßlose des Schreckens zu ermessen, beschwor (!) und beschwört (?) die Menschheit Ungeheuerliches mit Metaphern der Künste, indirekt in Auftrag gegeben denen, die das Medium beherrschen, als Notwehr gegen die Ohnmacht.
Die DDR war meine emotionale Heimat, meine kulturelle, meine politische. Künstler und die geschaffene Kultur hatten Würde, weil gefürchtet als Instanz der Meinungsbildung.
In kassandrischer Gewißheit, nicht erhört zu werden, nahm Günther Anders, der Zivilisationskritiker, Autor von „Hiroshima ist überall“ (und vielem anderen) die Verzweiflung mit ins Grab (1992). Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn zu zitieren, immer dann und immer dort und immer wieder, wenn er der Meister des letzten Wortes ist und bleibt! Günther Anders nennt die nukleare Bombenlast dieser Erde den „blutenden Mond“. Er ist über uns. Als Bedrohung. Auch wenn er seine kriegerische, versehentliche, terroristisch beabsichtigte, machtwahnsinnige Bestimmung noch nicht erhalten hat. Er ist der radioaktive Apokalypse-Reiter, dessen Entsorgung allein schon apokalyptisch ist. „Analphabeten der Angst“ und „apokalypseblind“ sind für Günther Anders die Menschen.

Ach bitte, Menschen, leistet Euch historische Vergleiche, um das Unheilvolle der Gegenwart zu erkennen!

Wie Marx fordert, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, war die DDR ein bekämpfter und mühevoller Weg eines solchen Versuches. Bei Marx ist zu lesen, daß Sozialismus der Kommunismus niederer Stufe ist und auf dieser war das Erreichte wohl die früheste Phase.

Haben wir erkannt, daß wir den Frieden als Fest des Alltags lebten? Die DDR: Keine paradiesischen Verhältnisse. Dennoch: Ein verlorenes Paradies.

Dieser Text wurde für das Buch „Das verlorene Paradies“ von Roland Willaert geschrieben.


12. November 2015

Laudatio zur Verleihung des Menschenrechtspreises 2015 an Dr. Peter Michel


In verlogenen Zeiten sind
Denkende Andersdenkende –
mit der Konsequenz, daß der
Denkende so allein sein kann
wie ein Mensch, der stirbt.


Sehr verehrte Anwesende,
sehr verehrter Dr. Peter Michel!

Wir würdigen Dr. Peter Michel mit unserer Gegenwart zur Verleihung des Menschenrechtspreises 2015, den er heute von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde erhält.

Das ist für mich ein persönliches Anliegen, lieber Peter.

Erinnern ist ein Abenteuer des Gedächtnisses, das ohne den Ein¬spruch des Zweifels gefällig ausfallen könnte. Peter Michels Sachlichkeit und Quellentreue ist zu vertrauen.
„Auch die Erinnerung wird ranzig. Beeil dich!“ Das gibt Elias Canetti uns auf den Weg. Er hat Peter nicht gemeint.

Was darf ich weglassen, was zusammenfassen, um mit der Kürze des Vortrags, die hier geboten ist, dem Umfang der laudablen Leistung des zu Würdigenden gerecht zu werden?
Ich will den Leistungsumfang vereinen in der Haltung, die seiner Mission eigen ist.
Weisung, Deutung, Preisen des Besonderen sind Teile einer Karto¬graphie, erstellt gegen die Schändung der Male der Kultur-Epoche DDR, abgeschlossen mit einer Hinterlassenschaft besonderer Hervor¬bringungen in den Künsten, die ein gesellschaftliches Phänomen der Spezifik des gewesenen Systems charakterisieren. Nach der Kolonialisierung des ostdeutschen Staates, in historischer Tradition kolonialer Siege, ist die komplette Vernichtung der Kultur, dinglich und geistig, die Aufgabe der Herrschenden im Gesamt¬deutschland geworden. Ein Dauerprogramm der Koinzidenz von Unkenntnis und Überheblichkeit. Das begann zu der Zeit, als der westdeutsche Staat den Zweiten Weltkrieg doch noch gewann.
Peter Michel hat aus diesem Frevel seinen Auftrag bezogen. Er klagt an und beschreibt eine „Spur der Schande“.
Richtigstellung, Gerechtigkeit trägt er vor und handelt. Er wurde ein Erfahrener in zwei grundverschiedenen Systemen. Schreibend, analysierend, redaktionell verantwortend ein Metier: die Künste und ihre Künstler in ihrer gesellschaftlichen Herausforderung und Ange-wiesenheit.

Als Chefredakteur der Zeitschrift „Bildende Kunst“ in der DDR war sein Instrumentarium Wissen, klare Einschätzung der Kulturprozesse und die Nähe zu den Kulturarbeitern, um mit Diplomatie und Überlegenheit und nochmals Diplomatie auf Partei-Orthodoxie reagieren zu können. 1975 bis 1987. Als Peter Michel 1987 abberufen wird, um für den erkrankten Horst Kolodziej das Amt des Ersten Sekretärs im Zentralvorstand des Verbandes Bildender Künstler der DDR zu übernehmen, dankt Prof. Karl Max Kober ihm für seine „immense Leistung“. Kober formuliert durchweg hohe Anerkennung. Die besondere Hervorhebung gilt der Forum-Reihe. „Sie einzurichten setzte Mut zum Risiko, Mut zu Demokratie voraus. … öffentliche und kontroverse Diskussion um Kernfragen initiiert zu haben, ist ein hohes Verdienst. … Hier hat ein Chefredakteur ein Stück Kunstgeschichte mit gestaltet.“

„Kunst ist das Gewissen der Menschheit“ sagt Friedrich Hebbel.
Dann ist es doch nur allzu nötig, mit diesem Gewissen gewissenhaft umzugehen.
Peter Michel hatte nach der „Ankunft in der Freiheit“ seine Existenznot zu meistern. Aber seine Gewissenhaftigkeit des Gewissens hat er der GBM zur Verfügung gestellt. Fachberatend, fachlich handelnd, um die Kultur in dieser Gesellschaft anzusiedeln und die Künstler mit ihren fortgeführten inneren Aufträgen dort kulturell zu beheimaten. Viele standen in der Depression, für ihre Kunsthaltung nun hier in diesem Lande war kein Ort – nirgends.
Ausstellungen organisiert, inszeniert, eröffnet, aktiv im Vorstand, Sprecher des Arbeitskreises „Kultur“ und des Freundeskreises „Kunst aus der DDR“, übernimmt Dr. Peter Michel 2004 das Amt des Chefredakteurs für die „Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur“, den „Icarus“, von der GBM von 2004 bis 2008 herausgegeben. Die fortlaufenden Hefte sind eine Chronologie politischer Einsprüche der GBM mit der Präsenz von Kultur und Kunst. Wir pflegten so die Kultur des Gedächtnisses und das Gedächtnis der Kultur. Eine zu bedankende und sehr geachtete Leistung Peter Michels. 2010 übernahm er die Leitung der Redaktions-Gruppe für das „Lexikon. Künstler der DDR“.
Die Ehrenamtlichkeit ist unser Ehrenamt. Es ist also dem sehr ernst, der solches tut.

Haben wir ein Ziel vor den Augen? Noch?
Ich sage wir, weil wir in unserer Utopie vereint sind. Wir sind doch mitten im Versuchs-programm stehen geblieben, im Status, sagt Prof. Hermann Klenner, des „gescheiterten europäischen Frühsozialismus“.
Kommunismus ist das theoretische Modell für ein gesellschaftliches System, das frühestens nach dem Sozialismus in Vollendung zur Entfaltung kommen kann. Real existierender Sozialismus bedeutet das nur machbare Entfernte vom Ideal. Als er in diesem historischen Zustand vom Zeitlichen nicht gesegnet wurde, hätte er das reformierende Umdenken verdient. So ist es also für den eventuellen Bedarf, daß einem Wandel dieser Zeit Vernunft zuwächst, nötig, daß wir Gedachtes und Gesagtes gedruckt haltbar machen.

Die Herausforderung ist: Erinnerung sichern! Kunstwerke haben eine Herkunft. Werke haben in der DDR Geschichte gemacht. Sie haben eine Geschichte. Beurteilbar nur, wenn die historische Aura der Entstehung der Deutung dient. Und warum die realistische Methode?
Hridlicka sagt: „So lieb ist der liebe Gott auch wieder nicht, daß er dem, der keinen Inhalt hat, die Form schenkt.“
Drängende Inhalte haben einer friedsüchtigen Sozietät, die mit tiefem Ernst aus der Geschichte der Menschen, die den Verrat an der Menschheit begingen, lernen wollte, die realistische Form gegeben. Die authentische, dem eingreifenden Denken gemäße.

Eigen ist Peter Michel ein reaktives Tempo. Das Ereignis hat noch gar keine Anfrage gestellt, er jedoch wird pünktlich immer wieder politische Richtigstellungen, Vorgänge von Wert, zur Klärung in die Öffentlichkeit stellen. Er ist ein Förderer. Er hilft mit formulierten Protesten, Verleumdete und Verleugnete wieder zu sich selbst zu führen. Er ist ein Betreuer im Sinne von treu.
Peter Michel hat auch mir mit eigenem Blick die Treue gehalten.
Dafür will ich hier danken. Ich bin mit Werk und Person eine Be¬nannte in der Vielgestaltigkeit seiner Publikationen, eine Betroffene, der Beachtung Zugeführte, aus dem Schatten der Verleumdung der Würde Anheimgestellte.
Er sieht in der Gesamtheit der DDR-Künste, freier und angewandter Bereich, eine alternative Moderne, eine Moderne anderer Art. Wir hatten unleugbar Kunst-Progreß und dazu das modernste Förder-Prinzip. Künstler konnten von ihrer Arbeit leben, das war soziale Sicherheit.
Kunstausdruck wurzelt in der Grundstruktur eines Gesellschafts-Sys¬tems. Der Vergleich zwischen Ost- und Westkultur kann nicht um das Bessere gehen, denn da ist dort Anderes neben dem hier Anderen entstanden. Die Kolonialisierung der DDR und der antikommunisti-sche Fanatismus fördern, im uns beherrschenden Ausmaß, Demagogie. Es heißt: „Der Demagoge ist ein kluger Kehlkopf.“
Es wird uns lauthals nicht das Recht gegeben, die logischen Ent¬stehungs-Modalitäten zu erklären. Herrschende könnten sich ein Bild machen. Das wollen sie nicht. Sie wissen alles. Sie sind nicht neugierig auf uns. Sie lieben Trugbilder für politische Verteufelungen.
Peter Michel schreibt dagegen an. Deine Texte, Peter, haben den Disput verdient. Eine Front ist eröffnet. Das Traurige: Auf dem Podium und im Publikum sitzen nur wir. Wir sind uns einig und bewahren auf.
Ich zitiere Peter Michel: „Den eigenen Blick lassen wir uns nicht nehmen. Die Kunstgeschichte aus 40 Jahren hat – wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – das Recht, ohne ideologische Scheuklappen wahrgenommen, nicht verschwiegen oder verfälscht zu werden. Das haben wir, als Teil der GBM, als unsere Menschenrechtsarbeit begriffen.“
Dr. Peter Michel hat eine Sachsprache, die ich schätze. Er stanzt seine Bildanalysen nicht in eine eitle Sprache der Selbstdarstellung. Er bleibt dienstleistend. Er verhilft dem Werk zu seinem Verständnis. Seine Bildbeschreibungen kann man bildhaft nachvollziehen. Dem Thema gibt er mit Nachdruck – der Substanz der Wirkabsicht des Künstlers verpflichtet – den politischen Zeitbezug.
Er poetisiert die Ästhetik angebracht.
Er wertet im historischen Bezug. Da gibt es keinen Orakelton, keine Wertungskonventionen. Er leitet die Faktizität des Gestalteten wortadäquat in die Tiefe, zum Wesensgrund. Spurensuche nach bildgewordener Dialektik. Es gibt kein Gefälle der Herabwürdigung. Wissenschaftliche Distanz, Fairneß und dieser ruhige neidfreie Respekt sind wichtige Voraussetzungen, um sich auf so eine Breite schöpferischer Hervorbringungen rezensierend einzulassen. Die Kom¬plexität des historischen Kulturspiegels zu bewahren, als Denkmal des verloschenen sozialistischen Landes, das ist Peter Michels Anliegen.
An die Wirkkraft der Kultur in der Gesellschaft wird erinnert. Das dialogische Prinzip war den Künstlern und den Betrachtern eine Angewiesenheit. Wachsam – ein Wächter. Peter Michel.
Er macht über sich eine noble Bemerkung: „Meine Biographie ergibt sich aus der Biographie anderer.“
Peter Michel nimmt sich ästhetischer und intellektueller Provokation an, die dem Realismus in der sozialistischen Kulturgeschichte eigen war.
Was uns eint, ist die Kategorisierung dessen, was Realismus als künstlerische Werk-Haltung bedeutet: Realismus ist ein zeitloses Mittel der Einmischung. Wenn beabsichtigt. Er hat mit modernen Inhalten zu tun, aber nur mit inhaltlicher Notwendigkeit wird er eine neue Form annehmen. Die realistische Methode ist aufklärerischer Vernunft verpflichtet. Diese Methode vermittelt Wahrheitsgehalt, demokratisiert Wirklichkeitsumgang und verbreitet Unbequemlich-keiten. Sie ist dort, wo sie ernsthaft erwartet und konsequent angewendet wird, die FREIESTE, weil DIKTAT- und MARKTFREI. Diese Art thematischer Kunst hat eine andere Konjunktur als kommerziellen Trends folgende Ware. Marken-Treue, dem Marktwert zuarbeiten, der Börsen-Kurve gehorchend, das ist der größte Verrat der FREIHEIT und ein unbarmherziges Gefängnis für die SCHÖPFERISCHE FREIHEIT. Bei preisbildender Marktwirtschaft stört KUNSTWERT.
Das Ausmaß an Kulturzerstörung, die Zerstörung unseres Geschichts¬bewußtseins, unserer Heimat-Erinnerung, das Ausblenden unserer rechtschaffenen Biographien, alles das recherchiert Peter Michel und stellt uns mit dem Titel seines Buches die Frage „Kulturnation Deutschland?“
Ich habe mir erlaubt, die Realismus-Definition noch einmal auf obige Weise hervorzuheben, um dieser nachfolgenden Groteske aus diesem Buch die Schändlichkeit zu geben.
Die Kanzlerin Angela Merkel war Schirmherrin der Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke“ – Jahrestag des Grundgesetzes der BRD.
Bilder der Ostkünstler nicht mal „als Zaungäste“, wie Peter sagt, vorhanden. Befragt, antwortet Dr. Merkel, daß es in der DDR keine Freiheit gegeben habe. Kunst könne nur in Freiheit gedeihen; also gab es in der DDR keine Kunst.

Freiheit ist ein unverbesserliches Abstraktum. Ein poetisches dazu. Freiheit, das deutsche Schindluder.
Was muß die arme Seele doch für Anstrengungen unternommen haben, um dem Reichtum an Kultur und Kunst in der DDR ausweichen zu können. Peter Michel vermittelt uns die Formen des Kultur-Vandalismus: dinglichen und geistigen.
Es bedrücken mich die Lückenlosigkeit und das Sinnlose des Schänd¬lichen, in der Bedeutung: angsthaft von Sinnen. Es kann hier nicht alles Erwähnung finden. Das ist eine Sache des Nachlesens. Keine Wertung.

Der erinnernde Gehweg durch die Gestaltung einer Stadt wird so in Trümmern liegen durch die Willkür dieser Sieger, die die Geschichte zurückdrehen und die Male des Erinnerns schänden.
Denn Erinnertes bedenken ist das kostbare Gut der Selbstbe¬hauptung, eine Präzisionsarbeit des Gedächtnisses mit Angewie¬senheit aufs Dokumentarische. Peter Michel gibt es uns ins Gedächtnis.

Er leistete und leistet in personeller Aktion mit drängender Korrespondenz. Z. B. im Einsatz für Jürgen Raues Denkmal „Befreiung“. Nach restauratorischer Begutachtung und Betreuung durch die Restauratorin Anne Michel in der Spezialwerkstatt für Metallrestaurierung Ostmann & Hempel wurde die in Teile zerlegte Arbeit aus dem Depot des Vergessens befreit. Die sogenannte Zwischengröße, die als Auschwitz-Denkmal ehemals dort ihren Standort hatte, erhielt die Größe und Gänze als Denkmal zurück und einen würdigen begehbaren Standort auf dem Hof des Jugendkulturzentrums „freiLand“ in Potsdam.
Nichts wäre möglich geworden ohne „eine aufopferungsvolle Spendenaktion, die in der GBM begann; Sponsoren – darunter die Rosa-Luxemburg-Stiftung u. a. – stellten Mittel zur Verfügung.“ Peter Michel berichtet.
Wir sind hier dabei, in die Würdigung zurückerzwungenes Verhalten zu beschreiben. Ich erinnere an ein Exempel, das statuiert wurde. Die Universität Greifswald beschließt, die aufgezinste Summe des Stiftungskapitals der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung zu nehmen, einen Forschungsauftrag zu postulieren, um die kommunistischen Verbrechen der Lea Grundig im „Unrechtsstaat“ DDR zu recherchieren, die Täterschaft zu „verwissenschaftlichen“ – finanziert von der Delinquentin selbst! Wir haben protestiert. Peter Michel hat protestiert und durch intensive Korrespondenz mit dazu verholfen, daß letztendlich die Grundig-Stiftung von der Universität Greifswald auf die Rosa-Luxemburg-Stiftung übertragen wurde. Man hat vergessen, ihn nun für die geklärten Abläufe dankend einzubeziehen.

Beim Lesen dessen, was Peter Michel über die Zerstörung und Nichtachtung oder konservatorische Verweigerung für das noch vorhandene Werk von Prof. Fritz Kühn – in Fortführung dann über das Werk des Sohnes Achim Kühn – schreibt, versteht man gar nichts mehr.
Wenn man davon ausgeht, daß hier ein Werk dazu diente, Städte-Bilder zu verschönern, Fassaden Dekoration zu geben, von einer Ästhetik geprägt, die mit der Unschuld feinster Gestaltung daherkommt. Immer die Faszination erlebend, daß hier ein störrisches Material, das Metall, der Stahl, sich ergeben hat in die Formung einer wunderbaren Eleganz. Ohne ideologische Befrachtung.
Wo ist hier der Anstoß? Die Ästhetik einer Herkunft? Einer Heimat.

Und in diese ganze Schmierenkomödie, in der der Selbstwert und die Haltung der Ostdeutschen, ein Leben im richtigen gelebt zu haben und ihre Biographie in Ehren halten zu wollen, wo die politische Aus¬peitschung der Unrechtsstaatler nicht aufhört, dahinein muß Prof. Hermann Raum als Waffenschmied sein Buch „Bildende Kunst in der DDR. Die andere Moderne. Werke – Tendenzen – Bleibendes“ dem Sieger in den Marschplan geben. 68 Künstler, die in diesem Buch fehlen, zählt Peter Michel als Vakuum.
Wer Hermann Raum kannte, wußte was von ihm zu erwarten war: Verrat nicht zu scheuen, wenn Karriere lohnt. Ein Konvertit, der schon immer mit falschen Karten gespielt hat. Dr. Peter Michel bringt ihn uns so nahe und widerlegt Raum durch Raum. Mit gründlichstem Quellenstudium und vornehmer Sachlichkeit schreibt er die „Anatomie eines Glaubenswechsels“. Eine kluge Zitierbarkeit zur Ehrenrettung für die Verleugneten oder Verleumdeten.
Es ist leider ein Tatbestand, daß Raum einen bibliographischen Zugriff für den restaurativen Zynismus bietet, mit dem ungehindert Schaden angerichtet werden wird. Den Aufschrei als Reaktion auf dieses Machwerk konnte nur ein Theoretiker übernehmen. Peter Michel, der in der Position des untrüglichen Miterlebens stand und über beweisführendes Material verfügt, hat lobenswert diese Aufgabe übernommen.

Die „Streitschrift wider die modernen Vandalen“ lesend und in der „Spur der Schande“ die bedeutenden Vertreter unserer Kunst¬geschichte findend, erlaube ich mir, folgendes zu sagen:
Denkmale geistiger oder haptischer Präsenz haben stehen zu bleiben. Sie sind Teile der Physiognomie der Geschichte. Wenn sie politisch verschwinden sollen unter dem Vorwand, sie seien Schandmale des schlechten Geschmacks, ist damit nur das Argument der Bleibepflicht gegeben. Ohne die physiognomische Anatomie eines Zeitlaufs lassen sich deren Falten und Furchen nicht erklären. Diese sind nicht nur schön, aber sie sind Elemente des Zusammenhangs.

Irrtümer der Geschichte geben sich postum zu erkennen, und wenn der Tragiktod ihrer Opfer nicht im Bewußtsein bleiben darf, werden sie als Irrende im Grab geschändet. Vom Denkmalsockel geschliffen. Straßen lassen sich deren Namen nehmen oder nicht mehr geben. Die, auf die wir achten wollten, und die wir achten, sterben nun ein zweites Mal.
Oder sollten wir stolz sein, daß die schwindende Generation der Zeugenschaft politisch so verängstigt?
Das läßt Peter Michel mich denken.
Obwohl ich die Schicksale zum Teil kenne, die im Sonderheft des „Icarus“ veröffentlicht wurden, ist der Essay „Das Sterben der Unseren“ ein dramatischer Auslöser für politische Wut und bedrückende Schwermut.
In der Rezension von Dr. Wolfgang Hütt heißt es: „Das Sterben der Unseren, eine erschütternde Dokumentation vom Freitod derer, die sich mit dem Verlust ihrer an Antifaschismus und Sozialismus orientierten Ideale nicht abfinden, das Sterben anderer, die bösartigen Verleumdungen zum Opfer fielen, die Berufsver¬bote erlitten oder aber der Massenarbeitslosigkeit überantwortet waren.“
Das hat sie in eine unüberwindbare Todessehnsucht versetzt, der sie folgen mußten.
Ein Schicksal, das tiefste Scham auslöst, ist das von Martha und Otto Fuchs.
Peter Michel schreibt: „Beispiele sind Legion. Genaue Statistiken über diese Jahre wird es nicht geben. … AFP veröffentlichte die Information, daß sich 1990 in den neuen Bundesländern 4.294 Men¬schen selbst töteten.“
Eine Befragung der Gauck-Behörde ergab: „Darüber führen wir keine Statistik.“

Peter läßt diese Menschen leben. Er gibt denen, die diesen Text lesen, den Auftrag: Denk mal an diese und errichte ihnen ein Mal des Ansiedenkens.

Ein weiteres Buch ist zu erwarten. „Künstler in der Zeitenwende“. Es werden ca. 70 biographische Miniaturen darin enthalten sein. Tote und Lebende bindet er in eine Gemeinschaft, die einem Ideal gefolgt ist, Menschenwürde leben zu dürfen. Diese Arbeit ist auch ein Zeugnis dafür, welche Nähe Dr. Michel aufsuchen mußte, um für diese Auskünfte autorisiert zu sein.

Ein kluger Text. Ein humanistischer Gong! „Alle Menschen werden Brüder? Ein Epilog.“
Wir lesen: „Für mich ist die ‚Neunte‘ eine völkervereinende Hymne, die der humanistischen Utopie von der Gleichheit aller Menschen eine musikalische Form gibt.“ Das Lesen wird hörbar untermalt von Schillers „Ode an die Freude“. Ich werde textgeführt von der Uraufführung der „Neunten“ in Wien 1824 bis in die Gegenwart. Peter Michel verfaßt eine Rezeptions¬geschichte in der Balance des „würdigen Gebrauchs und unwürdigen Mißbrauchs“. Offenbar ist es verführerisch, die „Ode an die Freude“ in die Täuschung verheerender Ideologien einzufreveln.
So geschah und geschieht es nun schon fast 200 Jahre.
Ich kann die „Neunte“ nicht mehr hören, hört man oft. Das ist auch Vandalismus dessen, der das Werk verrät.
Als ich das Schreibwerk Peter Michels erstmalig las, wußte ich, daß ich das alles wissen will, um mich dann befrachtet und befreit dieser Tongewalt hingeben zu können.

Peter Michel zitiert aus meinem Brief, den ich ihm reagierend schrieb, und ich zitiere ihn, weil darin zugleich abschließend ein Wunsch für den Umgang mit geschändeter, verleumdeter, depot-versenkter Kunst enthalten ist.

„Die großen Kunstwerke der Weltkultur haben den Hymnus universeller Utopien. Das ist das Verhängnis für eine zwar wirksame, aber frevelhafte Vernutzung. Davor kann niemand, zu keiner Zeit, die „Neunte“ schützen. In ihrer überragenden Wirkung – dem Sog ihrer emotionalen Geistigkeit – gehört sie leider allen. Denn sie ist nicht politisch konkret. Erst wenn man ihre Historie eröffnet, kann sie wieder befreit – rein – gehört werden.“ (H. H.)

Dr. Peter Michels Werk ist ein Kompendium, das Menschenrechte und Menschenwürde thematisiert.

Seine menschliche Würde und seine Würdigung von Menschen und deren Werken prädestinieren ihn, diesen Menschenrechtspreis heute hier entgegen zu nehmen.


Was zu Günter Grass zu sagen ist


Der Zivilisationskritiker Günther Anders (1902 bis 1992) war ein Rufer mit dem Rücken zur Wüste! Der Meister des letzten Wortes. Sein Warnruf war »Hiroshima ist überall«. So auch der Titel eines seiner Bücher. Günther Anders nennt die nukleare Bombenlast dieser Erde den »blutenden Mond«. Der »blutende Mond« ist über uns, auch wenn er seine kriegerische, versehentliche, wahnhafte, terroristisch beabsichtigte Bestimmung noch nicht erhalten hat. Sein Vorhandensein allein schon ist die Bedrohung. Und die ist der radioaktive Apokalypsereiter, dessen Entsorgung schon apokalyptisch ist. Günther Anders: Wir Menschen sind »apokalypseblind … Analphabeten der Angst … Die Zukunft kommt nicht mehr, wir machen sie. … Die Menschheit als ganze ist tötbar. … Der individuelle Tod (ist) so etwas wie ein Friedensluxus.« Günther Anders hat die Verzweiflung, nicht gehört worden zu sein, mit ins Grab genommen.

Günter Grass, »gealtert und mit letzter Tinte«, nicht »apokalypseblind«, begeht seinen Aufstand des Gewissens. Wissend, dass dieses Ausmaß seiner Zivilcourage Mißverständnis und Unterstellungen hervorrufen wird. Es geht ihm um mehr – Selbstschutz vernachlässigend. Günter Grass schrieb ein gerechtfertigtes Testament des Gewissens – ein Testament der Hoffnung auch: Er hat einen realisierbaren Vorschlag gemacht. Mit Wort-Noblesse, ohne im Ton oder mit Termini antisemitisch zu sein. Grass beteuert seine Verbundenheit mit Israel. Er weiß und wir wissen, dass wirkliche Freunde Israel »kritische Solidarität« schuldig sind. An dieser Stelle das Verschweigen wegen eines betonierten Tabus wäre Instrumentalisierung des Holocaust. Günter Grass benennt die Kontrahenten und beschwört eine politische Lösung. Bevor ein nuklearer Erstschlag, der in seiner Totalität unumkehrbar »auslöscht« und aus dem Inferno Nahost möglicherweise einen grauenvollen Anfang macht. Die Verteufelung von Grass in Deutschland dient einer Zwecklüge. Sie soll von der Rüstungsgeschäftigkeit zwischen Deutschland und Israel ablenken. Man bedenke: Die Liquidation ist nun mal das Ziel einer Produktion. Konsumtion von Waffen ist Krieg. Krieg ist Waffengeschäft. Zerbomben ist waffengeschäftig!

Ich bitte darum, »Was gesagt werden muss« mit klugem Kopf und empfindsamem Gewissen zu lesen und sich der verlogenen Verurteilung des Nobelpreisträgers für Literatur Günter Grass zu widersetzen.

Heidrun Hegewald, 9. April 2012