DR. PETER MICHEL
Kassandrarufe
Eine Huldigung zum 80. Geburtstag Heidrun Hegewalds
Nichts vermag den Geist so aufzuwecken
wie ein großer Schmerz. — Anatol France
Sie kämpft sich durch dieses Leben, durch ein Leben voller Widerstände und enttäuschter Hoffnungen, durch ein unbequemes Dasein. Bekannt geworden ist sie durch aufschreckende Werke: Gemälde, Zeichnungen und Graphiken und durch kluge Texte – nicht nur über ihr eigenes Metier. Nun hat sie ihr achtzigstes Jahr vollendet. Wer Warnung und Widerspruch als notwendige, schöpferische Denk- und Verhaltensweisen begreift, folgt ihrem künstlerischen Wollen. Volker Braun notierte in sein Arbeitsbuch am 22. Februar 1982, ihre Bilder seien erstaunlich; nirgends seien die Bedrohungen so nackt vor Augen geführt, nirgends sei die Entmenschung so Bild geworden, wie in diesen Menschenbildern.[1]
SELBSTBEHAUPTUNG
Schon in den Siebzigerjahren hatte sich Heidrun Hegewald der Kritik von mehreren Seiten ausgesetzt: durch jene, die in der Bildkunst ungestörte Erbauung suchten; durch jene, die von den Künsten die gleiche Abschottung vor Widersprüchen erwarteten, die sie selbst betrieben; durch jene, die nicht begriffen, dass die Urgründe dieser Bildwelt nicht Schwarzmalerei und Nihilismus, sondern Zuversicht und Lebensbejahung sind, und durch jene, die diese Bildkunst als »literarisch« abwerten wollten, weil sie leugneten, dass jede Kunst eine Botschaft haben muss, wenn sie – im Geist der Käthe Kollwitz – wirken will. Der bekannte Gebrauchsgrafiker und Hochschullehrer Axel Bertram pries ihr Beharren auf künstlerischer Moralität und schrieb: »Sie provoziert in ihrer Kunst in einer so schroffen Art, dass man sie nur verstehen kann, wenn man ihr empfindsames Harmonieverlangen dahinter wahrnimmt, für wahr nimmt.«[2]
Später – um 1989 – gab es Kunstwissenschaftler, die sich andernorts etablierte Auffassungen von künstlerischer Freiheit aneigneten, als seien das völlig neue Offenbarungen. Sie denunzierten das realistische Engagement Heidrun Hegewalds als Talentlosigkeit, weil Kunst nur dann autonom sein könne, wenn sie Moral abwerfe. Und es gab jene, die die in den Bildern formulierten Bedrängnisse als lediglich subjektiven Ausfluss von Problemen herabwürdigten, die nur die Künstlerin angehen. Schließlich stellte auch mancher sein bisheriges Urteil auf den Kopf, platzierte sich nach der »Wende« schnell und anpasserisch auf der Seite ihrer Kritiker oder überging Heidrun Hegewalds Bildfindungen mit Schweigen.
Gegen all das behauptet sich ihr Werk bis heute. Es legt Zeugnis ab von den Mühen der Ebenen; von Gegensätzen zwischen Anspruch und Realität; von Idealen, die angestrebt, aber schlecht oder nicht verwirklicht wurden; vom Verlust humaner Gesellschaftsbedingungen in der Gegenwart. Immer aber ist ihr kompromissloses Streben nach dem Menschen gemäßen Verhältnissen unübersehbar. Sie will mit den Betrachtern ihrer Kunst – nach dem dialogischen Prinzip – ins Gespräch kommen.
Mit dissidentischer Kunst, wie sie bis zum 26. September 2016 im Martin-Gropius-Bau in einer Ausstellung mit dem Titel »Gegenstimmen« zu sehen war, hat das Schaffen Heidrun Hegewalds nichts zu tun. Auch ihre Werke bewegten sich in der DDR »abseits der Stromlinie«[3], doch ihnen lag stets ein sozialistisches Ideal zugrunde. Sie würde sich schämen, sich an einer Ausstellung zu beteiligen, deren Zweck darin bestand, die Hetze gegen die DDR am Kochen zu halten – in einer Zeit, in der sich die Anzeichen mehren, dass mit dem Erbe der in der DDR geschaffenen Kunst normaler und achtungsvoller umgegangen wird. Nicht nur mich, auch Ronald Paris und andere widerte es an, diese Ausstellung zu besuchen, weil wir die Entstellungen kennen, die seit Jahren wie auf einer gebrochenen Schallplatte ständig wiederholt werden. Der Maler Trak Wendisch schrieb in einem Text über seine Arbeiten in dieser Ausstellung zu den gegenwärtigen Bedingungen: »Im Übrigen bleibt mein Platz zwischen den Stühlen, auch wenn es sich um Designermöbel handelt.«[4] Zwischen den Stühlen sitzt Heidrun Hegewald nicht. Ihr Platz ist eindeutig.
SCHICKSAL
Sie stammt aus Meißen, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Dresden, erlebte dort den Feuersturm und das Ende des zweiten Weltkrieges[5] und studierte ab 1955 zunächst Modegestaltung an einer Ingenieurschule in Berlin. Von dort ging sie 1958 zum Studium in den Fachbereich Graphik der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Ab 1960 bis 1971 wirkte sie freiberuflich als Illustratorin und Buchgestalterin. Die Qualität ihrer Arbeiten führte dazu, dass sie von 1971 bis 1974 als Meisterschülerin zu Werner Klemke an die Akademie der Künste kam. In dieser Zeit besuchte sie als Gasthörerin die Lehrveranstaltungen von Wolfgang Heise zur Geschichte der Philosophie und Ästhetik an der Berliner Humboldt-Universität. Wolfgang Heise war es auch, der später die Laudatio hielt, als man ihr 1980 den Max-Lingner-Preis der Akademie der Künste überreichte. »Heidrun Hegewalds bildlichen Äußerungen liegt eine hautlose, schmerzhafte Empfänglichkeit zugrunde«, formulierte er damals, »eine Empfänglichkeit dafür, was Menschen einander sind, sein könnten, was sie einander antun. Diese Sensitivität ist nicht eine Art partieller Fähigkeit, sondern Aktion der Gesamtperson: … sie spürt die Gefahren einer Zivilisationsmechanik, die, von Menschen gemacht, das Menschliche zu überrollen droht, die Gefahr einer funktionierenden Ordnung, deren Mechanik Wildheit und tödliche Gewalt gebiert.«[6] Es scheint, als habe Heise vorausgeahnt, was etwa zehn Jahre später - unter dem beschönigenden Begriff »Wende« - auch Heidrun Hegewald geschah. Sie verlor ihre Auftraggeber; ihre unbequeme Kunst eignete sich nicht zur Ausschmückung von Wohnzimmern und war deshalb kaum verkäuflich; sie verlor auf brutale Weise ihr unter vielen Mühen geschaffenes Atelier im Berliner Prenzlauer Berg an eine wieder aufgetauchte Alteigentümerin; von ihrer Kunst konnte sie nicht mehr existieren; sie war gezwungen, auf andere Weise zu überleben und arbeitete nach Umschulungen als Arzthelferin und Allergie-Assistentin in der Praxis ihres Mannes. Dennoch brach ihr künstlerisches Schaffen nicht ab.

Drogen-Pietà – Furiosa • 1990 • farbige Kreiden • 77 × 100cm • Wvz. Z114
KÜNSTLERISCHES WERK
Wenn man heute ältere, kunstinteressierte Menschen nach Erinnerungen an Werke von Heidrun Hegewald fragt, hört man meist sofort den Hinweis auf ihr Gemälde »Kind und Eltern« von 1976, auf ein einprägsames, symmetrisch komponiertes, beinahe zum Symbol gewordenes Bild der Entfremdung Erwachsener untereinander und zu ihrem Kind; schattenhaft wenden sich die Eltern an den Bildrändern voneinander ab und ignorieren das Mädchen, das im Zentrum durch eine lichterfüllte, halb geöffnete Tür ratlos in die Dunkelheit tritt. Bereits zwei Jahre zuvor hatte die Künstlerin ein »Spielendes Kind« gemalt, vereinsamt, bleich, angestrahlt vom blauen Licht des Fernsehgeräts, in das es müde und gleichgültig blickt, während ihr Spielzeug unerreichbar weggerollt ist. Je bedrückender das Bewusstsein der Möglichkeiten der Menschheitsvernichtung wurde, um so rigoroser nutzte Heidrun Hegewald seit den Endsiebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verunsichernde, aufstörende bildnerische Mittel, bis zur Exaltation getriebene Spannungen in den Figuren, ihrer Gestik und Mimik und eine reduzierte, aber eindringliche Farbigkeit. Die Gestalt des personifizierten Todes trat in vielfältigen Variationen auf. Und es gab in ihrem Schaffen einen zunehmenden, eigenwilligen, wohldurchdachten Bezug zu Mythen aus Antike und Religion.
Am Beginn dieser Phase steht u. a. ihr großformatiges »Mutterverdienstkreuz in Holz« (1979), ein Kruzifix-Gemälde, geschaffen nach der Erfindung der Neutronenbombe, die Darstellung einer gekreuzigten, nackten Schwangeren, vor deren Anblick Worte wie Stroh im Munde sind. Das Bild – Eigentum der Ludwig-Galerie Schloss Oberhausen – sahen wir gemeinsam mit ihr 2013 in der Ausstellung »Tischgespräche mit Luther« wieder, die im Angermuseum Erfurt im Rahmen eines Ausstellungsverbunds stattfand; diese Ausstellungstrilogie umfasste neben der Erfurter Bilderschau noch die Expositionen »Abschied von Ikarus« im Neuen Museum Weimar und »Schaffens(t)räume« in der Kunstsammlung Gera, entstanden in Kooperation mit dem Forschungsprojekt »Bildatlas – Kunst in der DDR«.[7] So groß die Freude war, Heidrun Hegewalds Gemälde in Erfurt wieder zu sehen, so groß war doch die Enttäuschung, dass von ihren Ikarus-Werken in Weimar nichts zu finden war. Da wurde wieder einmal an ihr vorbeigeforscht.
Im Kunstarchiv Beeskow befindet sich eines der Schlüsselwerke Heidrun Hegewalds: »Kassandra sieht ein Schlangenei« von 1981. Die Malerin ist immer wieder von dieser tragischen Gestalt des griechischen Mythos fasziniert und wandte sich ihr auch in anderen Werken zu. Kassandra-Rufe sind der sprichwörtlich gewordene Ausdruck für ungehört verhallte, aber berechtigte Warnungen. Man hielt diese Frau für wahnsinnig; sie war die Störerin aller Freuden und prophezeite nichts als Unglück. Mit diesem Bild warnt Heidrun Hegewald vor aufkommendem und immanentem Faschismus. Gut, das auch dieses Bild ab und zu auch heute in Ausstellungen zu sehen ist. Zu ihren bekanntesten Gemälden gehören »Die Tanzmeister, ein Bild über die falschen Töne«, das sie 1981 für das neue Gewandhaus Leipzig schuf, in dem es um Verführer und Verführte geht und die hedonistische Funktion von Musik in keiner Weise bedient wird; »Die Mutter mit dem Kinde« (1983/84) und »Prometheus bemerkt das Spiel mit dem Feuer« (1986) – beide sind intensive Appelle zum Schutz des Lebens. Eine Ehrung für die Revolutionärin Rosa Luxemburg, das Ganzkörperporträt »Die Rosa«, zuletzt ausgestellt 1988 im Ephraim-Palais Berlin und danach in der Galerie »Spittelkolonnaden«, fristet seit Jahren ein Dasein im Depot des Schweriner Staatlichen Museums.
Johannes R. Bechers »Das Gerücht« regte sie zu Kaltnadelradierungen an, ebenso Georg Maurers »Gedanken der Liebe«. Für Anna Seghers’ »Überfahrt« schuf sie im Jahr 2001 Lithografien. Ihre Zeichnungen tragen Titel wie »Irritierte Schutzengel«, »Am Anfang war der Schrei - Gebärende«, »Falle der Einsamkeit« oder »Ikarus stürzt«. Eine Kohlezeichnung, datiert 1991, unmittelbar nach der »Wende«, nennt sie »Freiheit – das deutsche Schindluder«. Hier ist die Freiheit zur Person geworden, zu einem expressiven Ganzakt, dem der Wind ins Gesicht bläst, der dennoch weiterkriechen will und dem rücklings das Herz aus dem Leib gerissen wird. Auch ihre gemalten, gezeichneten oder gedruckten Landschaften sind keine Abbilder, sondern immer Sinnbilder für größere gesellschaftliche Zusammenhänge und ihre Reflexe in den menschlichen Empfindungen.
EHRUNGEN
Es ist hier nicht möglich, den ganzen Reichtum des Schaffens von Heidrun Hegewald auch nur annähernd darzustellen. Die nun Achtzigjährige weist im Werkverzeichnis ihrer 2004 erschienenen, hervorragend gestalteten Monographie nahezu 80 Gemälde, mehr als 450 Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen und Collagen sowie etwa 100 Druckgraphiken aus; seitdem hat sie weitergearbeitet. In den vergangenen zwölf Jahren sind neue, bewegende Arbeiten entstanden, darunter das Gemälde »Judith auf Holofernes« (2005), die Kaltnadelradierung »Kassandras letzte Weissagung« (2006) und zahlreiche Zeichnungen, z.B. »Tod ohne Abschied«, »Terra und ihr ungeliebtes Kind« und »Schutzengel. Am Tatort«, sämtlich entstanden 2008.
Ihre Buchgestaltungen und Illustrationen sind ebenso bedeutsam. Die Bücher von Peter Hacks »Der Flohmarkt« und »Der Schuhu und die fliegende Prinzessin« wurden 1965 und 66 als Schönste Bücher des Jahres ausgezeichnet; ein Band mit ukrainischen Volksmärchen (»Der Fausthandschuh«) erhielt 1974 den Förderpreis des Ministeriums für Kultur. Sie gestaltete auf sensible, erschütternde Weise das Buch »Esther« von Bruno Apitz - eine Erzählung über eine zarte Liebe in einem Konzentrationslager, die sich nicht erfüllen konnte (Schönstes Buch des Jahres 1988) - und Holde-Barbara Ulrichs Buch »Komm zu mir. Es ist kalt«. Als Autorin wichtiger Texte in Zeitungen, Zeitschriften, Katalogen und Sammelbänden trat sie auf und sie ist eine gefragte Interviewpartnerin. 1993 erschien im Dietz Verlag ihr brillantes Buch »Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen«, angeregt von den Keuner-Parabeln Bertolt Brechts. So wie Herr K. Brechts persönliche Haltungen widerspiegelt, so ist Frau K. ein Spiegelbild Heidrun Hegewalds; sie offenbart poesievoll, mit bestechender Intelligenz biographische Befindlichkeiten im zusammengeschobenen Deutschland. »Ich bin, was mir geschieht« ist der Titel einer 2011 vom Verlag Neues Leben herausgegebenen Sammlung ihrer Schriften und Reden aus den vergangenen Jahrzehnten, ein Kompendium ihres Lebens und Denkens. Im Dezember 2007 las sie für ihr Hörbuch »Land – dreimal anderes«, erschienen bei ARTE-MISIA-PRESS, eigene, vor allem biographische Texte. Zu ihren Auszeichnungen gehören der Kunstpreis der DDR, der Nationalpreis 1989 – den sie nicht zurückgab – und 2009 der Menschenrechtspreis der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM).
NACH»WENDE«ZEIT
Während und nach der »Wende« wurden ihre Mahn- und Warnbilder für viele Menschen bedeutungsvoller als zuvor. Es wurde nun offensichtlich, dass ihre Kassandrarufe nicht ungehört bleiben konnten, weil sie wahrhaftig sind. Heidrun Hegewald zeigte ihre Arbeiten seit 1989/90 bisher in mehr als 20 Ausstellungen in Weimar, Gera, Berlin, Gotha und Wernigerode, u. a. in der Ladengalerie der »jungen Welt«, in der Inselgalerie und der Kulturbrauerei Berlin sowie im Literaturforum des Brecht-Hauses Berlin. Allein die GBM-Galerie präsentierte dreimal jeweils neue Arbeiten. Nicht nur die Ludwig-Galerie Schloss Oberhausen, das Kunstarchiv Beeskow und das Neue Gewandhaus Leipzig besitzen Werke von ihr, sondern auch die Akademie der Künste, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die Kunstsammlung Gera, das Museum der bildenden Künste Leipzig, die Staatliche Galerie Moritzburg Halle und andere. In mehr als 30 Privatsammlungen ist sie vertreten. In der Ausstellung »Auftrag - Kunst – 1949-1990. Bildende Künstler der DDR zwischen Ästhetik und Politik«, die 1994 im Deutschen Historischen Museum stattfand, um Auftragskunst als minderwertig zu denunzieren, wurden auch ihre Werke politisch missbraucht.
Pietà-Figurationen durchziehen einen Großteil ihres Werkes, auch Arbeiten, die nach 1989 entstanden. Dieses biblische Motiv taucht in den bildenden Künsten seit Jahrhunderten immer wieder auf: Maria beweint den am Kreuz gestorbenen Jesus; eine Mutter beweint ihren Sohn. 1990 brachte Heidrun Hegewald in einer Folge mit dem Titel »Frauen-Report« Grenzsituationen in Mutter-Kind-Beziehungen suggestiv mit farbigen Kreiden auf dunklen Grund. »Mein schwarzes Kind« entstand, nachdem sie 1988 von einem Angriff auf ein farbiges Kind in einer Straßenbahn erfahren hatte, bei dem kein Fahrgast einschritt. Eine weiße Frau hebt als gegenwärtige Mater Dolorosa – als schmerzensreiche Mutter – mit unendlicher Behutsamkeit das Kind vom Boden, das mit gebrochenen Armen, kraftlosen Beinen und starrem, verständnislosem Gesichtsausdruck nach oben blickt. Links thront – mit Glatzkopf und Stiernacken als Neonazi gekennzeichnet – die personifizierte, rohe Gleichgültigkeit. Das Ohr ist offen, Augen und Mund sind nicht erkennbar. Dieser Mensch hört alles, doch er stellt sich taub und blind. Güte setzen gegen Brutalität, mitleiden, mitfühlen, anklagen – das sind die Triebkräfte solcher bildnerischen Entscheidungen. Doch Güte kann umschlagen in ungebändigten Zorn. Mit weit aufgerissenen, glühenden Augen, mit äußerster Anstrengung ihre Last tragend, mit zusammengepresstem Mund schiebt eine Mutter ihr drogentotes Kind dem Betrachter entgegen. Aus der Mater Dolorosa ist eine Furiosa geworden. In der farbigen Zeichnung »Drogen-Pietà - FURIOSA - « herrscht keine Andacht mehr. Aus Erbarmen ist tödlicher Hass geworden; Hass auf jene, deren Geldgier vor Menschenleben nicht Halt macht; nicht zu zügelnde Bereitschaft, jene zu richten, die den Sohn in den Tod zogen. Dieser »Frauen-Report« hat seine Aktualität nicht verloren.
Heidrun Hegewalds Bilder sind auch heute Antithesen zum Werteverlust der Zeit. Es herrscht wieder das frühgeschichtliche Recht der Stärkeren. Kriege, ungebremste Gewalt, Zerstörungen, Vertreibungen, Hunger, Flüchtlingselend gehören zum Alltag. Unsere Utopien, wie sie in den Werken dieser Künstlerin eingeklagt werden, sind nicht vergessen. Dafür hat sie gesorgt. Wir danken ihr dafür und senden einen herzlichen Geburtstagsgruß in ihr Atelier nach Berlin-Karow.
- Volker Braun: Werktage 1, Arbeitsbuch 1977–1989, Suhrkamp Verlag 2009, S.445 [zurück]
- Axel Bertram: Notizen zur Buchgraphik von Heidrun Hegewald, in: Heidrun Hegewald – Zeichnungen, Malerei, Graphik, Texte, hrsg. von Angelika Haas und Bernd Kuhnert, ARTE-MISIA-PRESS, Berlin 2004, ISBN 3-00-014018-2, S.107 [zurück]
- Vgl. Ingeborg Ruthe: Abseits der Stromlinie. »Gegenstimmen«: Dissidentische Kunst aus der DDR verschafft sich im Gropius-Bau sichtlich Geltung, in: Berliner Zeitung vom 16./17.Juli 2016, S.25. (Was war eigentlich die »Stromlinie«?) [zurück]
- ebenda [zurück zum Text]
- Vgl. Heidrun Hegewald: Dresden, in: junge Welt vom 20. Oktober 2006, S.10 [zurück]
- Wolfgang Heise: Laudatio für Heidrun Hegewald, in: Heidrun Hegewald – Zeichnungen, Malerei, Graphik, Texte, a. a. O.; S.114 [zurück]
- Vgl. Peter Michel: Kein Abschied von Ikarus, in: junge Welt vom 8. Februar 2013, S.10/11 [zurück]
ABEL DOERING
Zu »ICH BIN, WAS MIR GESCHIEHT«
Der 75. Geburtstag von Heidrun Hegewald am 21. Oktober 2011 gab Anlaß, in ihrem gerade erschienenen Buch mit dem von Marivaux entliehenen Titel Ich bin, was mir geschieht zu lesen, und die Lektüre fesselte. Bei diesem, vom Verlag Neues Leben als Biographie bezeichneten Titel handelt es sich um eine Sammlung publizistischer Arbeiten der Malerin aus den letzten 20 Jahren, wobei den Texten schwarzweiße Abbildungen ihrer Werke beigefügt sind. Das Büchlein, 160 Seiten im Oktavformat zum Preis von 9,95 Euro, wurde auf 120gr Offsetpapier im Digitaldruck produziert und ist ordentlich in einem von Michael de Maizière gestalteten festen Pappband gebunden. Man nimmt es gern in die Hand. Allerdings setzt der an sich richtig vorangestellte Hinweis des Verlages: »Die Abbildung der Arbeiten von Heidrun Hegewald … folgt keiner illustrativen Absicht. Assoziation ist hoffentlich unvermeidlich«, etwas voraus, was das Buch gar nicht halten kann, denn die Bildchen, und das soll meine einzige Kritik an diesem Bändchen sein, sind leider teilweise recht klein geraten und werden weder der tatsächlichen Größe der Arbeiten noch dem geradezu philosophischen Gehalt der Texte gerecht.
Die Texte der Heidrun Hegewald erklären mit dem scharfen Blick einer Rosa Luxemburg die spätkapitalistische Wirklichkeit und beschreiben gleichzeitig mit den Augen einer Malerin voller Poesie mecklenburgische Landschaften und menschliches Miteinander. Ein gleichsam humanistisch analysierendes wie von Farben und Formen inspiriertes Schauen. Die Notate und Reden zeigen nochmals deutlich, daß sich Heidrun Hegewald neben ihrer Passion als Malerin auch als Schriftstellerin profiliert hat, was vielen, ich gestehe auch mir, lange Zeit verborgen geblieben ist. Diese Lücke schließt das Buch in beeindruckender Weise, indem es teilhaben läßt am Werden einer Künstlerin, die mit dem Trauma des Faschismus aus ihrer Kindheit in der DDR zur Künstlerin wurde und jetzt mit wachem Blick den bundesdeutschen Osten und das Leben im marktwirtschaftlich bestimmten Europa sieht und beschreibt. Ihre Texte verweisen auf die Perversion der modernen Gesellschaft und auch auf daraus resultierende Verflachung der deutschen Sprache und Alltagskultur. Und sie schreibt das konsequent, teilweise bewußt Konventionen der Rechtschreibung aufbrechend, bis hin zu interessanten Wortschöpfungen wie das von den Genießern des Choriner Musiksommers, die die Musik aus mitgebrachten Proviantkörben umessen.
Genau darin liegt für mich der eigentliche Wert dieser Texte. Es ist nicht das nähere Kennenlernen einer Künstlerin, die mit ihrem Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur bildenden Kunst der DDR geleistet hat und auch nicht die Entdeckung der Schriftstellerin Hegewald. Es ist der allen Texten immanente, immer wieder brillant formulierte Aufruf, sich nicht in die bürgerliche Bequemlichkeit eines Vernunft, Menschlichkeit und wirkliche Kunst vergessenden, mediengesteuerten Konsumenten zu ergeben, sondern stets zu schauen, genau hinzuschauen, zu überdenken und ebenso ästhetisch zu genießen, der das Buch für jeden kulturell Interessierten bedeutsam macht.
Den gedruckten Artikel finden Sie hier: MARGINALIEN Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 205. Heft (1.2012, Seite 94)DR. PETER MICHEL
»Nichts vermag den Geist so aufzuwecken wie ein großer Schmerz.« (Anatol France)
Rede zur Eröffnung der Heidrun-Hegewald-Ausstellung in der Städtischen Galerie Eisenhüttenstadt am 17. Dezember 2011

Die Ungeheuer gebieten der Vernunft Schlaf (Goyas Titel als Wortspiel von
K.-D. H.)
2006 • Lithotusche auf Papier – geschabt • 43 × 50cm
Es ist mir eine besondere Freude, hier – in der Städtischen Galerie Eisenhüttenstadt – eine Ausstellung zu eröffnen, die Werke der Malerin, Graphikerin, Zeichnerin und Schriftstellerin Heidrun Hegewald zeigt. Heidrun Hegewald, Willi Sitte und Walter Womacka, der ja mit dieser Stadt besonders verbunden war, wurden erst vor zwei Jahren zur Würdigung ihres Lebenswerkes mit dem Menschenrechtspreis der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde ausgezeichnet, drei Künstler, die das Streben nach einer menschengerechten Welt und einem wirkungsvollen Realismus vereint, die aber in ihrer künstlerischen Sprache kaum unterschiedlicher sein können. Vielfalt war kennzeichnend – nicht nur für diese drei. Es ist eine verdienstvolle Arbeit, die in der Eisenhüttenstädter Galerie geleistet wird, um das geistig-künstlerische Erbe zahlreicher – vor allem ostdeutscher – Künstler in die Vorstellungen von einer gesamtdeutschen Kultur zu rücken. Der Streit darüber ist auch seit mehr als 20 Jahren noch immer nicht beendet, doch die Stimmen der Vernunft werden häufiger und lauter.
Heute nun Heidrun Hegewald, deren Schöpfungen mir und anderen so am Herzen liegen. Sie zeigt Werke aus der langen Zeitspanne von 1980 bis in die unmittelbare Gegenwart. 20 der mehr als 50 Arbeiten fanden bereits Aufnahme in ihre große, 2004 erschienene Monographie. Andere entstanden später, alle – wie immer – unter dem inneren Zwang, mit den Mitteln der Kunst wie Käthe Kollwitz zu wirken in dieser Zeit, aber seit 1993 auch unter dem äußeren Druck, als Arzthelferin in der Praxis ihres Mannes die eigene Existenz zu sichern.
Vielleicht geht es Ihnen, liebe Freunde, ähnlich wie mir. Den Bildern Heidrun Hegewalds ist mit Worten schwer beizukommen. Sie sind nicht kontemplativ; von ihnen geht keine Beruhigung aus; sie wollen nicht besänftigen; sie regen auf – und manchmal beschleicht uns Beklemmung oder gar Ratlosigkeit. Wir erkennen christlich-ikonographische oder mythologische Bezüge wieder: eine Pietà, die Stigmata des Gekreuzigten, das Mutter-Kind-Motiv, Gestalten aus der Ikarus-Überlieferung und vieles Andere, das aus unserem Wissen über Geschichte, Literatur, Kunstgeschichte oder Philosophie kommt, das wir aber angesichts der Bilder zunächst nicht recht einzuordnen wissen, auch weil die Rigorosität des bildnerischen Vortrags aufstört und verunsichert.
In unserer visuellen Erinnerung – z. B. an die großen Kunstausstellungen in Dresden oder an Heidrun Hegewalds umfangreiche Personalausstellung am Berliner Fernsehturm – tauchen Werke auf, mit denen es uns vor Jahren und Jahrzehnten ebenso ging: eine »Mutter mit dem Kinde«, die schützend ihre Hand um den Kopf des eben Geborenen legt und vor der ein Fenstergeviert aufragt wie ein Fadenkreuz; eine lebensgroße hochschwangere Frau, die gekreuzigt vor uns hängt und unseren Blick, der gequält abschweifen will, nicht loslässt: das »Mutter-Verdienst-Kreuz in Holz«; »Und immer wieder Pontius P.«, der seine Hände in Unschuld wäscht; das Bild »Kind und Eltern« aus einer ganzen Reihe von Gemälden, die den Umgang der Generationen miteinander und mit ihren menschlichen Werten zum Inhalt haben; oder das großformatige Werk »Prometheus erkennt das Spiel mit dem Feuer«, in dem dieser eigentlich Vorausdenkende, der im Streit mit Zeus den Menschen das wärmende Feuer zurückgab, angesichts eines toten Kindes entsetzt erkennt, dass seine Tat, die der Menschheit nutzen sollte, diesem jungen Leben Vernichtung brachte – eine Metapher für den Umgang mit der Atomkraft.
Gleichnishaftigkeit prägt ebenso ihr Gemälde »Die Tanzmeister, ein Bild über die falschen Töne« vom Beginn der Achtzigerjahre, eine Totentanz-Darstellung, in der es um Verführer und Verführte geht, gemalt für das Neue Gewandhaus Leipzig. Hier wird eine bis zur Exaltation getriebene Gestik als intensives Ausdrucksmittel genutzt. Auch in unserer Ausstellung entdecken wir Heidrun Hegewalds tiefe innere Beziehung zum Tanz. Die Eindrücke Pina Bauschs und ihres Tanztheaters, das sie – wie sie in ihrem letzten Buch schrieb – »mit hungrigen Augen« nicht nur verfolgte, sondern gleichsam aufsaugte, stehen ihr für ihre Bildarbeit zur Verfügung: »Körpersprache, Muskelspiel, Typisierung, …, Mimik, Bewegung und Aufeinandertreffen der Körper, für Figuren, die Spannungen aushalten und erzeugen«. Jener ethisch rigorose Anspruch, der Heidrun Hegewalds Kunst etwa seit Beginn der Siebzigerjahre so unverwechselbar macht, tritt auch gegenwärtig – umso deutlicher – zutage. Es ist eine gewaltige geistig-künstlerische und nicht zuletzt emanzipatorische Leistung, die das hervorbrachte und die heute – unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, die solchem Streben feindlich gegenüber stehen – nicht hoch genug zu bewerten ist. Selbstverwirklichung war ihr Werk schon immer, doch heute ist der Preis höher, der dafür zu zahlen ist.
Einer der möglichen Wege, sich ihrem Werk zu nähern, führt über eine Rückbesinnung auf ergreifende Zeugnisse der Kunstgeschichte, z. B. auf Graphiken von Goya oder Käthe Kollwitz. In der langen Reihe der »Caprichos« von Francisco de Goya findet man in den Hexen- und Koboldszenen eine komplizierte Symbolik. Diese Szenen sind oft nicht leicht zu entschlüsseln. Doch sie sind keine sinnlosen Ausgeburten einer durch Krankheit gesteigerten Phantasie, sondern hatten in ihrem historischen Umfeld eine zeitkritische Potenz. Der Künstler bediente sich des Phantastischen, um unter dem Schutz der Vieldeutigkeit zu sagen, was sonst unsagbar geblieben wäre. Jene, die es anging, verstanden seine Sprache dennoch. Goya notierte auf eine Vorzeichnung des Blattes »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« die beschreibenden Worte: »Der Autor träumend. Seine einzige Absicht ist, schädliche Allgemeinplätze zu verbannen und mit diesem Werk der Caprichos das solide Zeugnis der Wahrheit zu verewigen.« Heidrun Hegewald, die auch sprachlich hochbegabte und philosophisch exzellent agierende Malerin, griff vor fünf Jahren ein Wortspiel auf und nannte eine Radierung und ein Schabblatt, die auch hier zu sehen sind, »Die Ungeheuer gebieten der Vernunft Schlaf« - und sie kommt so zu einer ganz zeitgemäßen Kritik.
Heute eine Ausstellung mit Werken Heidrun Hegewalds zu eröffnen heißt auch: über ihre Kassandra-Rufe sprechen. Immer wieder spielte das Schicksal dieser Mahnerin in ihrem Werk eine Rolle. Kassandra, deren Warnungen nicht geglaubt wurden, war in den Künsten der DDR – u. a. bei der kürzlich verstorbenen Christa Wolf – stets präsent. Heidrun Hegewald schuf mit ihrem großartigen Gemälde »Kassandra sieht ein Schlangenei« schon 1981 ein bildnerisches Gleichnis über aufkeimenden und immanenten Faschismus. In unserer Ausstellung, begegnet uns auch »Kassandras letzte Weissagung« von 2006.
Ebenso ist es mit der sagenumwobenen Figur des Ikarus. Dieser gescheiterte Himmelsstürmer stürzt, bringt seinen linken Flügel in Sicherheit, er »flügelt ein Segel« und verschenkt schließlich seine Flügel, nachdem von ihm nur ein hilfloser Torso geblieben ist. Zu den wiederkehrenden Themenkreisen gehören die »Irritierten Schutzengel«, die schon 1980 nahezu blind und gefesselt zur Hilflosigkeit verurteilt waren und die gleiche Unfähigkeit zu Schutz und Hilfe fast dreißig Jahre später in einer lauter und bunter gewordenen Welt erleben. Wo 1980 noch Andeutungen von Flügeln zu sehen waren, wird in den späteren Blättern die Fähigkeit zum Fliegen durch täuschende Armbewegungen imitiert. In unserer Ausstellung ist auch ihr in der »Wende«-Zeit entstandenes, aber bisher kaum in der Öffentlichkeit gezeigtes großformatiges Gemälde »Entropie, Sisyphos im Schoß« zu sehen. Heidrun Hegewald greift darin nicht nur auf mythologische Gestalten zurück; sie erfindet sie gleichsam neu, um einen naturwissenschaftlichen Begriff zu verkörpern. Auf den ersten Blick ist dieses Bild eine »Anna selbdritt«-Komposition. Sisyphos, erschöpft von der nie endenden Mühsal, sitzt nicht aufrecht im Schoß, sondern hängt kraftlos über dem rechten Bein der sitzenden Frau. Der riesige Stein, der im oberen Bildteil entgegen der Überlieferung einen kurzen Moment auf der Felsspitze liegen geblieben ist, scheint im Gleichgewicht zu sein. Doch wie lange liegt er still? Um Gleichgewicht geht es auch in der zentralen Gestalt. Vielerlei Kabel und Transfusionsleitungen erhalten und messen ihre Funktionen. Skeptisch blickt sie nach oben; mit der geballten Linken beschwört sie den Stein, in der Balance zu bleiben. Gemeint ist mit dieser Figur ein Begriff aus der Thermodynamik. Entropie kann als Maß dafür betrachtet werden, wie nahe sich ein System am Gleichgewicht befindet. Das magische Zeichen im linken oberen Bildteil zeigt unsere Erde, die uns eine Polkappe zuwendet. Ein riesiges Ozonloch klafft auf. Es geht um die ständig wachsende Gefahr einer von Menschen verursachten Klimakatastrophe, um die Frage, ob unsere Welt bewohnbar bleibt. Mit einer Cäsarengeste weist die Schicksalsfigur, in deren Schoß die »Entropie« sitzt, mit einem Daumen nach oben, mit dem anderen nach unten. Es hängt von uns ab, wie wir uns entscheiden und engagieren. Als dieses Bild im Auftrag der Akademie der Wissenschaften der DDR entstand, gab es Zweifel an der Malbarkeit eines solches Anliegen. Heidrun Hegewald bewies auf ihre Weise, dass dies möglich ist, wenn man auf rein illustrative Mittel verzichtet und die Kraft der Gleichnisse nutzt.
Mahnung und Kritik sind von jeher Bestandteile und Triebkräfte ihrer künstlerischen Arbeit und ihres theoretischen Denkens. Sie malt, radiert, lithographiert, zeichnet und schreibt, um nicht schreien zu müssen. Damit hatte sie schon in der DDR ihre Schwierigkeiten. Doch mir scheint, dass während und nach der politischen »Wende« ihre bittersten Werke entstanden. Der Schlaf der Vernunft dauert an. Es ist für Heidrun Hegewald undenkbar, mit Bildern Widersprüche zu verdecken; und die Betroffenheit, die sie hervorrufen will, ist produktiv, unverfälscht und will tatsächliches Handeln provozieren. Betroffenheit ist bei ihr nicht zur Politikerfloskel verkommen, die oft folgenlos zelebriert wird.
Wie Pieter Brueghel, der seine apokalyptischen Ahnungen in sein Bild »Triumph des Todes« malte, wie Carl Hofer, der 1939 in seinem Gemälde »Die Wächter« das Grauen des Zweiten Weltkrieges voraussah, wie Otto Dix oder Hans Grundig, die Dresdens Feuersturm Jahre zuvor auf die Leinwand brachten, wie Franz Radziwill, dessen zerrissene, blutende Himmel eine Vorwegnahme des Bombeninfernos waren, ist auch Heidrun Hegewald bedrängt von ihren Visionen, wird die Wahrheit vieler ihrer Bilder – auch der früher entstandenen – heute offensichtlich. Die mitunter schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihren in mythologische Bezüge verschränkten Wahrheiten hatte und hat Beunruhigung, auch Abwendung zur Folge. Wir sind ihr oft die Antworten schuldig geblieben.
Mancher hat in der Vergangenheit versucht, die in ihren Bildern formulierten Bedrängnisse von ihrem gesamtgesellschaftlichen Urgrund wegzuschieben und sie als ausschließlich subjektiven Ausdruck von Problemen zu kennzeichnen, die nur die Künstlerin angehen. Jeder, der diese Ausstellung mit offenen Augen, wachem Verstand und Sensibilität erlebt (und das ist der zweite Weg, sich ihrem Schaffen zu nähern), wird das zurückweisen – wie jeder Versuch scheitern muss, die Bedeutung eines solch einzigartigen Werkes wie auch immer zu verkleinern. Heidrun Hegewald geht mit ihrer Kunst gegen das schlimmste Laster an: die Trägheit des Herzens.
Eines der beklemmenden Blätter dieser Ausstellung, eine Kohlezeichnung, trägt den Titel »Freiheit – das deutsche Schindluder«, die Personifizierung der Freiheit als gequälte Frauengestalt, der man hinterrücks das Herz aus dem Leib reißt. Jeder von uns wird sehr konkrete Assoziationen damit verbinden. Heidrun Hegewald hat in ihrem Buch »Frau K. – Die zwei Arten zu erbleichen« darauf verwiesen, dass die Menschen trotz aller Medienmanipulation doch immer noch das Bedürfnis haben, das zu erkennen, was sie durchleben, und dass realistische Kunst einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten kann. Freiheit ist immer konkret. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Sie ist heute – wie die Künstlerin schreibt – »ein unverbesserliches Abstraktum. Und ein poetisches Schindluder dazu«. Die Diktatur des Geldes wird mit diesem Abstraktum zugedeckt. Das Bild hilft, darüber nachzudenken.
Diese Kunst ist anschauliches Denken; erwartet wird, dass der Betrachter solcherart Herausforderung annimmt und sie nicht – wie das heute immer noch geschieht – als »literarisch« oder unkünstlerisch abwertet.
Wir bewundern, liebe Heidrun, Deine Energie und Deine schier unerschöpfliche Kraft. Du kannst nicht schweigen zu dem, was in der Welt Menschlichkeit behindert. »Nichts«, schrieb Anatol France, »vermag den Geist so aufzuwecken wie ein großer Schmerz.« Darin, denke ich, liegt das Geheimnis der Wirkungskraft Deiner Bilder.
DR. ANGELIKA HAAS
In Verdeckung –
In Eisenhüttenstadt ist eine umfangreiche Ausstellung von Heidrun Hegewald zu sehen
Wird gegenwärtig die Demokratie durch die Finanzoligarchie vermarktet, so bleiben vor allem Mitmenschlichkeit, Solidarität und Mitgefühl auf der Strecke im »Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste«-Wettlauf der unterdrückten Mehrheit, der der euphemistisch »Austeritätspolitik« genannten Sparpolitik Ausgesetzten, denen die Lebensmittel knapper werden. Während ein mediokrer Bundespräsident – Sinnbild der sich selbst bereichernden Elite – zur Ablenkung als Einzelfall beBILDert wird – mit der Saat der Dummheit als Kalkül der Herrschenden.
Genau dafür ist die Kunst der Hegewald gefährlich, denn sie wird verstanden, rüttelt auf, brandmarkt die »Freiheit, das deutsche Schindluder« (1991), zeigt das Wühlen im »Biographischen Befund« (2000) mit der Hoffnung, das Anliegen der Kritischen delegitimieren zu können. Machen wir die zunichte, indem wir uns gegenseitig stärken, auch »Ikarus bringt seinen linken Flügel in Sicherheit« (2004) …
Den gedruckten Artikel finden Sie hier: junge WeltBeitrag der MÄRKISCHE ODERZEITUNG vom 19. 12. 2011 zur Ausstellung in Eisenhüttenstadt bitte hier lesen.
Peter H. Feist
Mehr als Wut: Sie ist auch eine Mutbürgerin
Den Beitrag von Peter H. Feist im NEUES DEUTSCHLAND vom 21. 10. 2011 finden Sie hier.
DR. JÜRGEN HARDER
Oft unverstanden,
weil unüblich weitsichtig (Auszug)

»Oft unverstanden, weil unüblich weitsichtig« – ein klarer, ein schmerzlicher Satz. Er findet sich in der klugen und prägnanten Einführung von Angelika Haas in die vorliegende Monographie. In seiner aphoristischen Treffsicherheit scheint dieser Satz – auf den ersten Blick – bereits alles auszusagen, was das außergewöhnliche Schicksal der außergewöhnlichen Heidrun Hegewald und ihrer außergewöhnlichen Bildwelt betrifft …
So wie die Bilder Hegewalds keinen Ausgang in die Idylle gewähren, so entläßt auch der vorliegende Band den Betrachter nicht ins Heitere …
Es gehört zum Großartigen dieses Bandes, wie in ihm das akademisch-theoretische Niveau der zu Worte kommenden Wissenschaftler und Kritiker – durch und durch erhellend – auf den hohen Anspruch und die ästhetische Qualität eines so außergewöhnlichen Weges in der zeitgenössischen Kunst trifft …
Der Schaffensprozeß Heidrun Hegewalds, in den viele Erfahrungen vergangener Kunst eingegangen sind, wurzelt unvergleichlich intensiv und geradezu existenziell in der Persönlichkeit der Künstlerin …
Heidrun Hegewald nimmt mythologische Gestalten, die Allegorien, Metaphern und Symbole als ideell aufgeladene Kunstformen: aufgeladen mit Wissen und Erfahrungen der Menschengattung; aufgeladen mit ästhetischen Wertungen und moralischen Impulsen. Und doch: Alles, was hier zur Form geronnen, was in Bildern als Sinn, Wert und Bedeutung akkumuliert ist, all dies ist historischen, gesellschaftlichen und politischen Krisen und Wandlungen unterworfen, denen Heidrun Hegewald – mit der ihr eigenen Besessenheit – auf der Spur ist. All dies ist ihr Herausforderung zur kritischen Brechung. Eine künstlerische Herausforderung, die Heidrun Hegewald in der spannungsreichen Dialektik von Mythos und Ethos annimmt …
In ihrem Text, einem stringenten Plädoyer für den Realismus, vermag Heidrun Hegewald diesen von allen legendären Verunglimpfungen zu befreien – einfach dadurch, daß sie ihn erklärt. Ebenso wie sie, ohne jede Mythologisierung auskommend, das Geheimnis des weiblichen Anteils an der bildenden Kunst ein für allemal lüftet. Keine Frage: Die bildende Kunst prägt das Profil der Heidrun Hegewald. Ihre Texte vermögen dieses Profil durchaus zu schärfen. Sie sind wunderbare Zeugnisse eines leidenschaftlichen Engagements. Sie sind hochsensible Auskünfte einer faszinierenden Frau, einer großartigen Künstlerin, einer unermüdlichen Aufklärerin, kurz: eines authentischen Ostmenschen, einer Intellektuellen von Format.
Ich ziehe die Summe. Für den Gesamteindruck der Monographie über Heidrun Hegewald drängen sich drei Charateristika auf:
Großartig. Wichtig. Nützlich.
Großartig ist an dieser Monographie, wie sie ein anspruchsvolles und schwieriges Werk präsentiert und aufschließt — als einen herausragenden Solitär in der Kunstlandschaft. Auf wunderbare Weise wird hier einem Verständnis der Kunst Heidrun Hegewalds zugearbeitet …
Wichtig ist die Monographie im politischen und gesellschaftlichen Kontext: im nicht abgeschlossenen Kampf um das Kunsterbe der DDR. Wir haben nicht vergessen: Der vorliegende Band handelt von einer Künstlerin, die die deutsche Einheit mit schäbigen wie schändlichen Versuchen einer Auslöschung ihres Werks aus der nationalen Kunstgeschichte, , aus dem nationalen Gedächtnis, konfrontiert hat.
Nützlich – im besten Sinne – ist die Monographie schließlich in ihrem Charakter als glänzende und präzise Dokumentation von Vita und Werk Heidrun Hegewalds. Mit der Biographie, mit den Angaben zu sämtlichen Auszeichnungen und Ausstellungen, mit dem Werkverzeichnis und der Bibliographie ist der Band ein unentbehrliches Hilfsmittel für Kunstwissenschaftler und Kulturpolitiker, für alle interessierten Institutionen, Verbände, Organisationen, Gremien und Einzelpersonen. Diese Dokumentation ist ein wirksames und praktikables Instrument, um eine Künstlerin von Rang und ihr einzigartiges Werk der Vergessenheit zu entreißen. Die Einzigartigkeit dieses Werkes hat der Künstlerkollege Rolf Biebl auf diese schöne Formel gebracht: »Heidrun Hegewald zeigt uns mit ihren Arbeiten Wahrheiten, die mit Figuren geschrieben werden und ihre Wahrheit zur Selbsterhaltung.« (S.125)
ICARUS, Heft 4/2004, S. 46 ff.
DR. PETER MICHEL
Mythos und Ethos (Auszug)
In der Kunst der Heidrun Hegewald wird nicht erzählt, sondern provoziert. Das Anliegen wird nicht illustriert; der Betrachter wird ernst genommen und zum Dialog, zur Kommunikation herausgefordert. Sensus und Ratio sind untrennbar miteinander verflochten. Ästhetisches und Ethisches konkretisieren sich im Bild als weltanschauliches Bekenntnis. Deshalb auch der Zugriff auf Symbole, Allegorien, Metaphern, Attribute, Chiffren und Archetypen. Heidrun Hegewald nutzt solche Mittel, um sonst Unvorstellbares greifbar zu machen, um ihre Ideen mit Sinnträgern zu verbinden. […]
Diese Symbolik verwendete Heidrun Hegewald im Wissen um die Tatsache, daß Symbole nicht nur offenbaren, sondern auch verhüllen können. Deshalb gehörte Heidrun Hegewald vor allem in den siebziger und achtziger Jahren auch zu denen, die in der DDR mit ihrer Bildkunst auf Ungelöstes, dem verkündeten Anspruch nicht Gemäßes, auf zugedeckte Konflikte und Antagonismen hinwiesen. […]
„Auffallend und nicht verabredet, bestimmten griechische Mythen, biblische Stoffe und die christliche Ikonographie Themen und Motive in der Kunst, auch in meiner", schrieb Heidrun Hegewald. „Eine metaphern-schlaue Umgehungssprache eröffnete Spielräume für Phantasie und Denken, ohne das Delikt benennen zu müssen. Über die Tiefe der geschichtlichen Ferne wurden Dimensionen bereitgestellt: unverlebter Moral und humanistischer Weisheit, die im Auf und Ab der Menschheitsentwicklung unbeschädigt blieben. Augen wurden dabei weit gestellt – Sinnbilder deutend. Bildungsgut wurde bewegt, wertend mitten in die Unvereinbarkeit von Realitäten und idealem Anspruch hinein. Kultur-Progreß der DDR-Kunst seit den siebziger Jahren ist markiert von fortgesetzt störenden ethischen Befunden.“
„Unverlebte Moral“ als Maßstab setzen, die menschenbildenden Potenzen „humanistischer Weisheit“ nutzen, mit „störenden ethischen Befunden“ Fehlentwicklungen aufdecken, Widersprüche erkennen lassen und Veränderungen anmahnen – das sind die Maximen, die Leben und Werk Heidrun Hegewalds von Anfang an bestimmten und bis in die Gegenwart wirken. […]
Je deutlicher sich Ideal und Wirklichkeit widersprachen, je brennender die Probleme hervortraten und je bedrückender das Bewußtsein der Möglichkeiten der Menschheitsvernichtung wurde, um so rigoroser nutzte Heidrun Hegewald verunsichernde, aufstörende bildnerische Mittel: bis zur Exaltation getriebene Spannungen in Figuren, Gestik und Mimik, eine durch Reduktion auf wenige Klänge und Kontraste erreichte eindringliche Farbigkeit, die Gestalt des personifizierten Todes in vielfältigen Variationen und etwa seit dem Ende der siebziger Jahre zunehmend Mythen aus Antike und Religion … . Eine Entwicklung in der Kunst der DDR, die Heidrun Hegewald am konsequentesten vorantrieb. […]
Ihre Bilder sind auch heute Antithesen zum Werteverlust der Zeit, in der ethische und moralische Prinzipien edel verkündet werden und zugleich das Gegenteil praktiziert wird. Es herrscht wieder das frühgeschichtliche Recht der Stärkeren. Kriege gehören zum Alltag. Utopien, wie sie in den Werken Heidrun Hegewalds eingeklagt werden, sind Utopien geblieben. Ungebremste Gewalt, Mangel und Hunger sind der Preis der globalisierten bürgerlichen „Freiheit“. Kassandra-Rufe sind nötiger denn je …
In: Heidrun Hegewald
Zeichnungen • Malerei • Graphik • Texte
ARTE-MISIA-PRESS, Berlin 2004, S. 63 ff.
PROF. AXEL BERTRAM
Notizen zur Buchgraphik von Heidrun Hegewald (Auszug)
[…] Heidrun Hegewald ist eine intellektuelle Empfindlichkeit eigen, ein Beharren auf künstlerischer Moralität, die sie stolz erscheinen lassen, mitunter sogar hochfahrend, wiewohl sie es gar nicht sein will und kann. Dazu ist sie zu verletzlich. Man kann es in ihren graphischen Blättern lesen, in denen Angriff und Trauer sich gegenseitig steigern. Sie provoziert in ihrer Kunst manchmal in einer so schroffen Art, daß man sie nur verstehen kann, wenn man ihr empfindsames Harmonieverlangen dahinter wahrnimmt, für wahr nimmt. […]
Die Zeichnungen vermeiden einen Realismus der Oberflächen. Sie illustrieren nicht, sie wiederholen nicht begleitend das im Text Gesagte, sie halten eine weise Distanz zum Text, der in sprachlichen Wendungen seinen eigenen Weg gehen muß und kehren sich entschieden einer eigenständigen Bildmacht zu. […]
Nicht ausweichen mit dem Zeichenstift heißt, sich nicht, wie des öfteren zu sehen, von der Gewalt und ihrer Beschreibung faszinieren zu lassen, heißt, die Gewalt nicht ästhetisch zu dämonisieren, sondern ihren Spuren in der menschlichen Verletzung nachzugehen. Das heißt auch und vor allem, Sentimentalität zu vermeiden …
In: Heidrun Hegewald
Zeichnungen • Malerei • Graphik • Texte
ARTE-MISIA-PRESS, Berlin 2004, S. 99 ff.
PROF. PETER H. FEIST
Die Formen der Kassandrarufe (Auszug)
[…] Kunst vermag sehr viel Verschiedenes, und nichts davon möchte man missen. Heidrun Hegewald hat sich für die schwierige Möglichkeit entschieden, uns gleich der Trojanerin Kassandra zu beunruhigen, zu warnen. Schonungslos auch sich selbst gegenüber. Nichts, was ihre Werke zeigen, sollte so sein oder bleiben, wie es ist – so grausam, gefährlich, entsetzlich, so nachtverschlungen, bedroht, gequält, so verletzlich. In den Befunden scheint wenig Hoffnung. Kein heiteres Spiel, kein schöner Trost, kein Zukunftsentwurf. Keine Figur lächelt. Aber da ist immer wieder ein aufrechtes Standhalten gleich dem der Rosa Luxemburg, da sind die plastische Kraft auch in den gebeugten Schultern sich umschlingender Liebender, sind Fäuste, die gegen Mauern schlagen, das Aufblitzen von Lichtschein in der Finsternis, der bohrende Blick auf uns, daß wir doch endlich aufwachen mögen. Da ist das ungestüme „Theater der Grausamkeit“ des gesamten Œuvres, das die Schrecken der sozialen Realität im Spiegel der Bildflächen bannen will wie in den Radierungen Goyas, auf den Tafeln des Hieronymus Bosch oder im Tympanonrelief der romanischen Kathedrale von Autun, in dessen Inschrift zu lesen ist: „Damit der Schrecken schrecken möge.“
In: Heidrun Hegewald
Zeichnungen • Malerei • Graphik • Texte
ARTE-MISIA-PRESS, Berlin 200, S. 11 ff.
PROF. WOLFGANG HEISE
1980 in seiner Laudatio anläßlich der Verleihung des Max-Lingner-Preises der Akademie der Künste der DDR (Auszug)
„Heidrun Hegewalds bildlichen Äußerungen liegt eine hautlose, schmerzhafte Empfänglichkeit zugrunde, eine Empfänglichkeit dafür, was Menschen einander sind, sein könnten, was sie einander antun.
Diese Sensitivität ist nicht eine Art partieller Fähigkeit, sondern Aktion der Gesamtperson: Sie als Individuum ist das Organ der Wirklichkeitsaufnahme, erfährt sich als ausgesetzt dem, was da zwischen uns geschieht, da ist keine Wahl, sie spürt die Gefahren einer Zivilisationsmechanik, die, von Menschen gemacht, das Menschliche zu überrollen droht, die Gefahr einer funktionierenden Ordnung, deren Mechanik Wildheit und tödliche Gewalt gebiert.“
In: Heidrun Hegewald
Zeichnungen • Malerei • Graphik • Texte
ARTE-MISIA-PRESS, Berlin 2004, S. 113 ff.
DR. ANGELIKA HAAS
Eröffnungsrede am 06. Oktober 2006 in der GBM-Galerie (Auszug)
Heidrun Hegewald ist ihre Figuren. Ihre Figuren sind Heidrun Hegewald. Sie ist das MODELL vor dem Richter; sie ist ROSA L., die Hexe; sie ist die Schwangere, deren Kopf mit einer Gasmaske verwachsen soll; die in BINDUNGEN Zerreißende; die MUTTER MIT DEM KINDE, durch deren Körper das Kreuz wächst, ist IKARUS, der abstürzt und der sucht, seinen linken Flügel zu retten, und immer wieder KASSANDRA.
Ihre Bilder erschließen sich nicht im ersten Hinblick und Zugriff – sie erinnern an etwas, das wir schon einmal kannten, dachten, flüchtig empfanden – und immer bleibt ein Rest …
Der läßt uns vermuten oder gibt uns die Gewißheit, daß sie beim Malen empfand, was wir in uns haben, was uns wichtig ist, uns schmerzt oder uns stärkt, was wir ohne den Impuls vor ihren Bildern nicht auszudrücken vermochten. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns dessen bewußt zu werden, was uns wertvoll ist, was uns freut oder worum wir trauern, es in Gedanken zu bringen und uns zu formulieren, den Austausch darüber zu wagen, einander weiterzuhelfen. So ist sie wichtig für uns, die Hegewald. Denn: Ihre Bilder haben ihre Geschichte in unserer Geschichte.
VOLKER BRAUN
22. 02. 82
sehen die erstaunlichen bilder der heidrun hegewald; nirgends sind die bedrohungen so nackt vor augen geführt, ist die entmenschung so bild geworden wie in diesen menschenbildern. vergleichbar allenfalls der kollwitz, nur sind ihre motive abstrakter, die leiber gleichsam herausgerissen aus dem sozialen feld, so daß sie wieder zu beunruhigen vermögen, aber auf eine sehr allgemeine art; eine kassandra vor dem janus-tor, durch das, man weiß nicht von wo, ein dumpfes gläubiges marschieren geht, abstoßende, „empörende“ figuren, in strengen konzentrierten formen. DIE BINDUNG: ein paar, zueinanderhingebeugt, das sich aber nur mit armen und zehen berührt, in der leibesmitte von starken gurten auseinandergezogen von unsichtbarer gewalt; der mann, wenn er die frau losließe, würde hinweggerissen in die institutionen, die frau, ein bein zurückgesetzt, hätte noch einen halt in sich, sie stehen zusammengehörig und aufs äußerste zerspannt, leibhaftig und erschreckende metapher.